»Aber wir haben noch nicht alles versucht!«
Es ist gut, dass Du die Trennung nicht kopflos vollziehst. Es ist ein radikaler Schritt mit entsprechenden Konsequenzen. Du könntest ihn tatsächlich bereuen. Andererseits kannst Du ihn auch endlos hinauszögern, indem Du Dir immer wieder einredest, noch nicht »alles versucht« zu haben.
Es gibt gute Gründe, eine Trennung noch nicht zu vollziehen, und schlechte. Wie Du Dir denken kannst, ist das Verhältnis nicht ausgewogen. Die guten sind schnell aufgezählt.
Nicht trennen sollst Du Dich, wenn Du, was Dich belastet, schmerzt und ärgert, zwar all Deinen Freundinnen und Freunden erzählt hast, aber noch nicht jenem Menschen, den es am meisten angeht. Oder zumindest nicht so, dass eine Verbesserung stattgefunden hat.
Weiß er oder sie, was Dir fehlt? Was Du brauchst? Was Dir wirklich wichtig ist? Wo Deine Grenzen liegen und überschritten werden? Hast Du Dir und Deinem Gegenüber das schon maximal klar gemacht – oder hast Du Dich mit destruktiven Vorwürfen und verschlüsselten Hinweisen begnügt?
Je nachdem hat Dein Partner oder Deine Partnerin noch gar nicht die Möglichkeit gehabt, adäquat auf Deine Bedürfnisse zu reagieren. Sich unter diesen Voraussetzungen zu trennen, wäre erstens unfair und zweitens nicht besonders sinnvoll. Dann bist Du zwar den Stress los, hast aber nicht gelernt, Dich klar zu positionieren. Diese Herausforderung wird Dir in der nächsten Beziehung gleich wieder begegnen.
In diesem Fall hast Du noch nicht »alles versucht«. Und solltest genau das tun.
Manche Kluft ist einfach zu weit
Allerdings kommt der Punkt, an dem Du nicht mehr deutlicher werden kannst, leider ziemlich bald. Natürlich kannst Du Deine Haltung mit mehr, anderen oder einfach lauteren Worten wiederholen. Aber unüberbrückbare Differenzen werden dadurch nicht überwunden. Weil sie nicht überwunden werden können. Auch wenn Du Dir das mehr wünschst als alles andere.
Die Situation, in der Du Dich ständig mit der Trennung beschäftigst, sie aber nicht vollziehst, obwohl Du möchtest und weißt, dass es besser wäre, kann Jahre dauern. Es wird nie etwas stattfinden, das Dir zeigt und beweist, dass Du alles versucht hast.
Es kann aber der Punkt kommen, an dem Du genau das einsiehst und sagst: »Genug. Es reicht. Bis hierhin und nicht weiter. Weil das, was noch kommt, schön sein soll. Und das hier nicht schön ist. Auch wenn ich genau weiß, wie es sein müsste, dass es schön wäre.«
(Der inflationär gebrauchte Konjunktiv ist übrigens ein ziemlich deutliches Zeichen, dass etwas nicht stimmt.)
Du wirst nie alles versucht haben. Es gibt immer noch ein Gespräch, das Ihr führen könnt. Oder eine andere Paartherapeutin, die Ihr aufsuchen könnt. Oder ein neues Buch, das Ihr lesen könnt. Oder ein paar etwas weniger konfliktreiche Tage, aus denen Ihr wieder Hoffnung schöpfen könnt.
Es ist Dein Leben. Du musst selber entscheiden, wie es sich gestalten soll und Du später darauf zurückblicken wirst. »Zum Glück habe immer weitergemacht, obwohl ich ziemlich bald gewusst habe, dass es nichts bringt« ist vermutlich ein Gedanke, den Du so nicht haben wirst.
Sag »genug«, wenn es genug ist. Und nicht »aber«.